Warum lassen sich Menschen tätowieren, Gabriel Wolff?
"Ich bin Künstler, mich interessieren vor allem Geschichten, für das
Tätowieren selbst interessiere ich mich kaum", sagt Gabriel Wolff im
Podcast Frisch an die Arbeit. "Als Kalligraf ist alles, was ich mache,
immer Text: Das kann ein Gedicht sein, ein Bibelzitat oder eine Stelle
aus dem Talmud. Und diesen Text packe ich dann in Kunst."
Wolff, 43, ist in Dachau geboren, in München aufgewachsen und dann mit
seiner Mutter nach Israel ausgewandert. Er hat, wie er im Podcast
erzählt, schon als Kind immer viel gemalt und gezeichnet – und von
Anfang an meistens Buchstaben. "Ich habe in Jerusalem gelebt und dort
gibt es sehr viel islamische Kalligrafie, also arabische Buchstaben, die
künstlerisch umgesetzt werden. Das hat mich inspiriert", erzählt er.
Je mehr er gezeichnet habe, desto anspruchsvoller seien seine Entwürfe
geworden, sagt Wolff: "Ich habe die Buchstaben immer mehr in die Formen
reinwachsen lassen, nach einiger Zeit waren es nicht mehr Quadrate oder
Kreise, in denen ich die Buchstaben arrangierte, sondern Bäume."
Weil Wolff als Jugendlicher den obligatorischen Wehrdienst in Israel aus
Protest gegen die anhaltende Besetzung Palästinas verweigerte, musste er
mehrfach ins Militärgefängnis – und traf ausgerechnet dort auf einen
Mitgefangenen, der ihm riet, seine Zeichnungen als Tätowierungen
anzubieten. "Ich bin dann zwei Wochen in einem Tattoostudio in Jerusalem
rumgehangen, aber ganz ehrlich: Ich habe es nicht gemocht, das war
nichts für mich", erzählt Wolff. "Ich bin dann zu meinen Leinwänden und
Papieren zurückgekehrt."
Heute entwirft Wolff nur noch die Kalligrafien, die später tätowiert
werden. "Die meisten meiner Kunden leben in den Vereinigten Staaten und
Kanada", sagt Wolff. Mittlerweile beschäftigt er eine Mitarbeiterin, die
all die Vorgespräche führt und die Geschichten der Menschen
zusammenträgt.
"80 Prozent unserer gemeinsamen Arbeit ist zuzuhören, um die Geschichten
der Menschen zu verstehen, die ich später in meinen Bildern
zusammenfasse." In den 20 Jahren, in denen seine Kalligrafien tätowiert
wurden, schätzt Wolff, habe er schon für gut 3.000 Menschen gezeichnet.
Nicht nur für Wolff, sondern auch für seine Kunden war der 7. Oktober
2023, an dem Kämpfer der Hamas Israel überfielen und viele Menschen
töteten, vergewaltigten und entführten, ein tiefer Einschnitt. Zunächst,
erzählt er, seien die Entwürfe nach dem Massaker größer, sehr klar und
bekennend gewesen: Davidsterne, Löwen, israelische Symbole. "Aber
ungefähr ein halbes Jahr später, als die Leute den stärker werdenden
Antisemitismus bemerkt haben, hat es sich umgekehrt", sagt Wolff. "Die
Tätowierungen sind jetzt sehr viel dezenter, sehr viel zurückgezogener
und überhaupt kommen viel weniger Anfragen."
Im Podcast erzählt Wolff, weshalb er fast einmal Mitglied der
kommunistischen Partei Israels geworden wäre und warum er seine Arbeit
als sinnhaft erlebt – aber nicht als Glück.
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